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§ 129 BetrVG: Der Betriebsratsvorsitzende hat (vorerst) das letzte Wort

LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.8.2020 – 12 TaBVGa 1015/20

Viele unserer Blogbeiträge bestehen aus einem Rückblick auf ein ergangenes Urteil, welches aufgrund seines Inhalts gleichzeitig (rechtliche) Auswirkungen auf die Zukunft hat. Zu Beginn der Corona-Pandemie war dies plötzlich ein wenig anders: In unseren Blogbeiträgen begleiteten wir (auch) mehr oder weniger als Berichterstatter die vielen arbeits- und sozialrechtlichen Maßnahmen des Gesetzgebers. So auch in unserem Blogbeitrag vom 19.05.2020 zum sogenannten „Sozialschutzpaket II“ und die darin enthaltene Einführung des § 129 BetrVG über die vorübergehende Möglichkeit der digitalen Betriebsratssitzungen. Wer damals dachte, dass die Einführung des § 129 BetrVG zu einem großen Gesprächsthema werden würde, wurde in der Folge jedoch etwas enttäuscht. Natürlich spielte die Möglichkeit, eine Betriebsratssitzung nicht nur in der gewohnten Form der Präsenzveranstaltung durchzuführen, in der Praxis fortan eine Rolle. Dies geschah gleichwohl relativ geräuschlos. Zudem war das Infektionsgeschehen in der Bundesrepublik soweit unter Kontrolle.

All das könnte sich nun ändern: Mit den steigenden Infektionszahlen stellen sich erneut viele Fragen am Arbeitsplatz oder in der Betriebsratsarbeit. Den Auftakt macht in rechtlicher Hinsicht ein Beschluss des LAG Berlin-Brandenburg zu der Frage, wer im Rahmen des § 129 BetrVG und bei der Entscheidung darüber, ob die Betriebsratssitzung als Präsenzsitzung oder digital stattfindet, das letzte Wort hat.

Der Arbeitgeber verbietet Präsenzsitzung

Das LAG Berlin-Brandenburg hatte in einem einstweiligen Verfügungsverfahren zu entscheiden. Seit März 2020 führte der antragstellende Gesamtbetriebsrat einer Arbeitgeberin, welche in Deutschland überregional Kliniken betreibt, seine Sitzungen aufgrund der Corona-Pandemie digital über Telefon- und Videokonferenzen durch. Im Juli 2020 kam es bei angestellten Ärzten der Arbeitgeberin zu Infektionen mit dem Coronavirus, so dass in der Folge durch die Gesundheitsbehörde 130 Patienten unter Quarantäne gestellten wurden und die Arbeitgeberin beschloss, allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Teilnahme an klinikübergreifenden Präsenzveranstaltungen zu untersagen. Mit E-Mail vom 23. Juli 2020 teilte die Arbeitgeberin dem Gesamtbetriebsrat und weiteren Arbeitnehmervertretungen mit, die Geschäftsleitung habe beschlossen, jegliche klinikübergreifenden Treffen nicht zu gestatten. Dies umfasse Betriebsrats- und Ausschusssitzungen, die über die Zusammenkunft von Mitarbeitern von mehr als einer Klinik hinausgingen. Der Gesamtbetriebsrat hatte jedoch zuvor entschieden, die für Mitte August 2020 vorgesehene mehrtägige Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses als Präsenzsitzung in Koblenz durchzuführen. Mit E-Mail vom 24. Juli 2020 widerrief die Arbeitgeberin eine zuvor für die Sitzung in Koblenz erteilte Kostenzusage.

Daraufhin stellte der Gesamtbetriebsrat Anträge vor dem Arbeitsgericht Berlin, wonach der Arbeitgeberin aufgegeben werden sollte, sowohl die Untersagung der Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses als Präsenzveranstaltung in Koblenz als auch grundsätzlich die Untersagung von Betriebsratssitzungen als Präsenzveranstaltung zu unterlassen. Das Arbeitsgericht Berlin wies die Anträge zurück. Gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin legte der Gesamtbetriebsrat Beschwerde ein. Zwar war der Antrag hinsichtlich der Sitzung in Koblenz mittlerweile zeitlich hinfällig, doch der Gesamtbetriebsrat machte nun einen entsprechenden Unterlassungsanspruch bezüglich einer geplanten Gesamtbetriebsratssitzung im September in Darmstadt geltend. Laut Tagesordnung sollten bei dieser Sitzung des Gesamtbetriebsrats ein stellvertretender Vorsitzender gewählt werden und Nachwahlen zum Gesamtbetriebs- und zum Wirtschaftsausschuss stattfinden.

Der Gesamtbetriebsrat war der Auffassung, dass die Entscheidung, ob eine Sitzung mittels Video- und Telefonkonferenz durchgeführt werde, im freien Ermessen des Vorsitzenden bzw. stellvertretenden Vorsitzenden liege und Eingriffsbefugnisse der Arbeitgeberin insoweit nicht bestünden. Die Arbeitgeberin wies dagegen auf das Infektionsgeschehen bei den von ihr beschäftigten Ärzten sowie auf die insgesamt wieder ansteigende Zahl von Infektionen mit dem Coronavirus hin. Zudem vertrat sie die Ansicht, dass sich aus dem Recht an dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, aus der Berücksichtigungspflicht bezüglich betrieblicher Belange sowie dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit ein Anspruch der Arbeitgeberin gegen den Gesamtbetriebsrat ergebe, Präsenzsitzungen zu unterlassen.

Exkurs: Die Regelung des § 129 BetrVG

Nach § 129 Abs. 1 BetrVG können die Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats sowie die Beschlussfassung mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Da die Regelung ihrem Wortlaut nach von der Möglichkeit der Teilnahme an Betriebsratssitzungen in Form von Video- und Telefonkonferenzen spricht, ist es erlaubt, dass neben reinen Präsenz- oder komplett digitalen Betriebsratssitzungen auch eine Art „gemischte“ Sitzung und Beschlussfassung stattfindet, indem nur einzelne Betriebsratsmitglieder per Video und Telefon zur Präsenzsitzung hinzugeschaltet werden.

In welcher Form die Sitzung durchgeführt wird, entscheidet der Betriebsratsvorsitzende den Grundsätzen des BetrVG entsprechend nach pflichtgemäßem Ermessen. Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung sind beispielweise angesichts der Infektionsgefahr die Größe des Gremiums und die Größe der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten zu berücksichtigen. Bei alledem ist vom Grundsatz der Präsenzsitzung auszugehen. Telefon- und Videokonferenzen sollten die Ausnahme darstellen, die aber gerade jetzt genutzt werden dürfen.

Der Beschluss

Entgegen der Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin gab das LAG Berlin-Brandenburg dem Gesamtbetriebsrat teilweise Recht und sah die Voraussetzungen nach § 78 S. 1 BetrVG für die Unterlassungsverfügung gegen die Arbeitgeberin, nicht die Sitzungen von Gesamtbetriebsausschuss und Gesamtbetriebsrat im September zu untersagen, als gegeben an. Gemäß § 78 S. 1 BetrVG dürfen die Mitglieder des Betriebsrates, des Gesamtbetriebsrats und anderer in der Vorschrift aufgezählter Vertretungen in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden. Die Untersagung der Sitzung im September in Darmstadt stellte nach Ansicht des Gerichts eine solche Störung dar, da die Sitzung aufgrund der geplanten Wahlen präsent stattfinden musste und sich keine Anspruchsgrundlage zur Untersagung durch die Arbeitgeberin fand:

„Der Gesamtbetriebsrat muss im Hinblick auf die angesetzten Wahlen die für September geplante Sitzung als Präsenzsitzung durchführen und kann nicht auf die Durchführung als Telefonkonferenz oder Videokonferenz ausweichen. Der von der Arbeitgeberin herangezogene Anspruch auf Durchführung als Video- oder Telefonkonferenz kann daher nicht bestehen. (…) Auf Wahlen findet der § 129 BetrVG keine Anwendung. Nach dem Wortlaut betrifft die Vorschrift die Sitzungsteilnahme und die Beschlussfassung. Wahlen sind auch in der Gesetzesbegründung nicht angesprochen. Außerdem trifft § 129 BetrVG keine Vorkehrungen, wie eine geheime Stimmabgabe bzw. eine Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgen sollen. Dies kann aber bereits deshalb erforderlich werden, weil das BetrVG teilweise ausdrücklich entsprechende Vorgaben macht. (…) Eine Unzulässigkeit der Durchführung der Gesamtbetriebsratssitzung im September als Präsenzsitzung und eine etwa darauf beruhende Befugnis der Arbeitgeberin, diese zu untersagen, folgen nicht aus der am Tagungsort geltenden Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. (…)

Hinsichtlich der geltend gemachten generellen Unterlassungspflicht, Präsenzsitzungen des Gesamtbetriebsrats zu untersagen, verblieb es jedoch bei der zurückweisenden Entscheidung des Arbeitsgerichts. Dabei betonte das Gericht, dass die Nutzung von Video- und Telefonkonferenzen als zusätzliche Option neben die hergebrachte Durchführung von Sitzungen unter physischer Anwesenheit der Teilnehmer vor Ort als Regelfall trete. Insoweit sei zunächst der Gesamtbetriebsrat in der Pflicht, bei der Planung und Vorbereitung künftiger Sitzungen zwischen der Durchführung als Präsenzsitzung oder als Telefon- bzw. Videokonferenz abzuwägen. Dabei wird insbesondere die künftige Entwicklung des Pandemiegeschehens und der dagegen ergriffenen Maßnahmen zu berücksichtigen sein.

Einschätzung der Entscheidung

Ein abschließendes Fazit oder eine Prognose für die kommenden Wochen sind an dieser Stelle nicht möglich. Vielmehr stellt die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg den Startschuss einer Diskussion bezüglich der Anwendung des § 129 BetrVG dar. Das Gericht hat ausdrücklich offengelassen, „ob aus der in § 129 BetrVG geregelten Möglichkeit von Video- oder Telefonkonferenz bei Hinzutreten besonderer Umstände eine Verpflichtung der Arbeitnehmervertretung folgen kann, Sitzungen unter Nutzung dieser Formen durchzuführen.“ Angesichts des rasant voranschreitenden Infektionsgeschehens der letzten Tage und Wochen bedarf es nicht viel Fantasie, dass manch ein Arbeitgeber oder auch ein Gericht in Zukunft annehmen könnte, es sei geboten, die Arbeitnehmervertretung angesichts des Infektionsrisikos auf die digitale Form der Betriebsratssitzung zu verweisen und eine Präsenzsitzung zu untersagen. Dass sich hierbei in Zukunft mehr als nur eine Frage stellen wird, hat das LAG Berlin-Brandenburg gleich mit klargestellt, indem es erklärte, dass es diskussionswürdig sei, „ob nicht im Einzelfall für besondere Situationen und Umstände, wie das Zusammentreten eines überregionalen Vertretungsgremiums mit Angehörigen aus im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie besonders wichtigen Berufsgruppen, ein Vorrang für die Nutzung von Video- oder Telefonkonferenzen begründet werden könnte.“

Derweil hat das Arbeitsgericht Berlin am 07.10.2020 (Az. 7 BVGa 12816/20) bereits den nächsten ähnlich gelagerten Fall entschieden. Eine Arbeitgeberin hatte dem Konzernbetriebsrat eine Sitzung als Präsenzveranstaltung untersagt. Das Gericht entschied sich unter Heranziehung des hier besprochenen Urteils des LAG Berlin-Brandenburg für die Annahme eines Unterlassungsanspruchs des Konzernbetriebsrates gegenüber der Arbeitgeberin. Die (dargestellte) Dynamik dieses Themas vor dem Hintergrund des aktuellen Infektionsgeschehens zeigt aber: Hierzu sind das letzte Wort sowie die letzte gerichtliche Entscheidung noch nicht gesprochen bzw. gefällt.

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