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BAG beabsichtigt eine Rechtsprechungsänderung bei Fehlern im Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen

In unserem Blogbeitrag vom 02.06.2023 hatten wir über das Vorabentscheidungsersuchen des BAG vom 27.01.2022 (6 AZR 155/21) berichtet und am 12.10.2023 über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 13.07.2023 – C-134/22. Der EuGH stellte in dieser Entscheidung fest, dass nicht jeder Fehler bei der Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führt. Konkret hatte der EuGH entschieden, dass die in der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) vorgesehene Verpflichtung des Arbeitgebers, der Agentur für Arbeit im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens auch eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung zuzuleiten, den einzelnen gekündigten Arbeitnehmern keinen Individualrechtsschutz vermittelt. Das hätte zur Folge, dass die ausgesprochenen Kündigungen allein wegen eines solchen Verstoßes gegen die MERL nicht unwirksam wären.

Das BAG hatte neben dem Verfahren (6 AZR 155/21), in dem es das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt hatte, noch vier weitere Verfahren ausgesetzt (6 AZR 157/22, 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22), bei denen ebenfalls Fehler im Massenentlassungsverfahren vorlagen. Diese Fehler betrafen jedoch nicht die Pflicht, eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit weiterzuleiten, sondern andere Fehler. Teilweise wurde die Massenentlassung der Agentur für Arbeit überhaupt nicht nach § 17 Abs. 1 KSchG angezeigt, teilweise genügte die Massenentlassungsanzeige nicht den Anforderungen des § 17 Abs. 3 S. 2 und 3 KSchG, weil die Massenentlassungsanzeige erstattet wurde, bevor das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. KSchG abgeschlossen war. Nichtsdestotrotz wurden auch diese vier Verfahren vor dem BAG zunächst bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt, ohne dass das BAG dem EuGH die zugrundliegenden Fragestellungen gesondert zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.

Divergenzanfrage des BAG

Nachdem durch die Entscheidung des EuGH nun zumindest geklärt ist, dass ein Verstoß gegen die Weiterleitungspflicht nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen hat, beabsichtigt der Sechste Senat des BAG, seine ständige Rechtsprechung unter Beachtung der Entscheidung des EuGH zu ändern.

Um den Weg für eine Rechtsprechungsänderung zu ebnen, hat der Sechste Senat nun eine sog. Divergenzanfrage gestellt. Diese beabsichtigte Rechtsprechungsänderung des Sechsten Senats würde nämlich zu einer entscheidungserheblichen Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats des BAG führen (BAG, Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11). Der Zweite Senat hat deshalb nun zu entscheiden, ob er an seiner Rechtsprechung von 2012 festhält. Wenn der Zweite Senat nicht an seiner Auffassung festhält, kann der Sechste Senat die beabsichtigte Rechtsprechungsänderung direkt umsetzen. Wenn der Zweite Senat jedoch weiterhin der Meinung sein sollte, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigungen bei einer Massenentlassung führt, müsste der Große Senat des BAG über die mögliche Rechtsprechungsänderung entscheiden.

Zukünftige Auswirkungen

Welche Fälle diese Rechtsprechungsänderung konkret umfassen wird, bleibt jedoch noch ungewiss. Laut der Pressemitteilung bezieht sich die Divergenzanfrage des Sechsten Senats generell auf Fehler beim Massenentlassungsanzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG. Dies ginge über die Entscheidung des EuGH hinaus, die nur den Verstoß gegen die Weiterleistungspflicht § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG betrifft. Ob auch andere Fehler beim Massenentlassungsanzeigeverfahren zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen, hatte der EuGH in seiner Entscheidung nämlich explizit offen gelassen. Das BAG könnte eine solche Änderung seiner Rechtsprechung hinsichtlich der Folgen von Verstößen gegen die MERL allerdings zulässigerweise auch ohne weitere Vorlage an den EuGH vollziehen. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH, obliegt die Wahl einer Sanktion bei Verstößen gegen die Vorschriften der MERL grundsätzlich den Mitgliedstaaten.

Ob auch Fehler bei der Unterrichtung des Betriebsrates über geplante Massenentlassungen nach § 17 Abs. 2 KSchG künftig nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen, wird bisher nicht thematisiert und war auch für keines der ausgesetzten Verfahren entscheidungserheblich. Daher ist es gut möglich, dass es in diesem Fall bei einer Unwirksamkeit der Kündigungen bleibt.

Das Ergebnis der Divergenzanfrage des Sechsten an den Zweiten Senat bzw. möglicherweise die Entscheidung des Großen Senats des BAG ist mit Spannung zu erwarten. Wir werden weiter berichten.

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