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BAG-Entscheidung . Arbeitszeiterfassung . Veröffentlichung Entscheidungsgründe

 

Das BAG hat am 13.09.2022 – 1 ABR 22/21 – entschieden, dass Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann und dass dem Betriebsrat kein – über einen Einigungsstellenspruch durchsetzbares – Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Systems zusteht.

Da sich aus der hierzu veröffentlichten Pressemitteilung des BAG keine konkreten Vorgaben betreffend den Umfang der Verpflichtung, Arbeitszeiten zu erfassen ergeben haben, wurde von Arbeitgebern und Betriebsräten die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe mit Spannung erwartet. Am 03.12.2022 war es nun so weit – auf folgende sich aus der Entscheidung ergebenden praktischen Fragestellungen haben wir nun Antworten:

1. Auf welcher gesetzlichen Grundlage ist ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen?

Die Pflicht der Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden in ihrem Betrieb erfasst werden, folgt bei unionsrechtskonformer Auslegung aus der Rahmenvorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Nach dieser haben Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“ zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitzustellen.

2. Besteht seitens der Arbeitgeber ein Gestaltungsspielraum bezogen auf die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung?

Nach den Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union ist zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System einzuführen, mit dem die von den Beschäftigten geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Solange vom deutschen Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden, besteht für den Arbeitgeber ein Gestaltungsspielraum, u.a. bei der Wahl der „Form“ dieses Systems. Auch § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG belässt dem Arbeitgeber einen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der „geeigneten Organisation“ des Arbeitsschutzes. Dieser Gestaltungsspielraum bildet auch den Anknüpfungspunkt für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG.

3. Welche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen?

Den Betriebsparteien kommt insbesondere ein Gestaltungsspielraum dahingehend zu, in welcher Art und Weise die Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betrieb zu erfolgen hat. Bezogen auf die „Form“ bzw. die Auswahl des Systems zur Arbeitszeiterfassung sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Beschäftigten und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen. Die Arbeitszeiterfassung muss nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. Bei der Auswahl und der näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist jedoch zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen

4. Kann die Arbeitszeiterfassung auf die Beschäftigten delegiert werden?

Ja, eine Delegierung der Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Beschäftigten ist nach der Rechtsprechung des BAG zulässig. Da aber der Arbeitgeber gegenüber den Behörden eine Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeiten seiner Beschäftigten zu verantworten hat, sollten im Falle der Delegierung eine entsprechende Arbeitsanweisung gegenüber den Beschäftigten erlassen und die Beschäftigten zu einer Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeiten verpflichten werden.

 5. Können Beschäftigte jetzt nicht mehr im Rahmen von Vertrauensarbeitszeit tätig werden?

Im Rahmen von Vertrauensarbeitszeit verzichtet der Arbeitgeber auf eine Ausübung seines Weisungsrechts hinsichtlich der zeitlichen Lage der Arbeitszeit und ermöglicht seinen Beschäftigten ein selbstbestimmteres Arbeiten. Dies führt aber – auch bisher – nicht dazu, dass die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze nicht mehr zu beachten wären. Daher finden beispielsweise neben den Regelungen des ArbZG (Höchstgrenzen, Ruhezeitanforderungen, Aufzeichnungs- und Nachweispflicht usw.) auch die Regelungen des ArbSchG, insbesondere § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, uneingeschränkt Anwendung. Somit sind nach Maßgabe der aktuellen Rechtsprechung des BAG auch die tatsächlichen Arbeitszeiten von Beschäftigten in Vertrauensarbeitszeit zu erfassen.

6. Gilt die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auch gegenüber leitenden Angestellten?

Aus den Entscheidungsgründen des BAG ergibt sich, dass sich die aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG folgende Verpflichtung der Arbeitgeberin zur Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeiten der Beschäftigten auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bezieht. Damit sind leitende Angestellte von der Arbeitszeiterfassung ausgenommen (vgl. hierzu auch § 18 ArbZG).

7. Was müssen die Betriebsparteien beachten, wenn sie zu dieser Thematik die Einigungsstelle anrufen möchten?

Das BAG hat festgestellt, dass der Betriebsrat wegen des Charakters von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG als arbeitsschutzrechtliche Rahmenvorschrift ein Initiativrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei der Frage hat, welche „Form“ bzw. welches System zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit im Betrieb gewählt wird. Für diesen Regelungsgegenstand kann die Einsetzung einer Einigungsstelle verlangt werden. Denkbar wäre daher die Anrufung einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Ausgestaltung eines im Betrieb zu verwendenden Systems zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit für alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer:Innen im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 BetrVG“.  Die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung kann das Ergebnis der Entscheidung einer solchen Einigungsstelle sein.

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