Was gibt's Neues?

Führen Fehler in Massenentlassungsanzeigen in Zukunft nicht mehr zur Unwirksamkeit von Kündigungen?

Es zeichnet sich eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung im Sanktionssystem bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren ab. Es scheint, als ob das Bundesarbeitsgericht (BAG) beabsichtigt, seine Rechtsprechung zu ändern, nach der schon geringfügige Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren die Unwirksamkeit einer Kündigung zur Folge haben, wenn sich betroffene Arbeitnehmende auf diese Verstöße berufen.

Bisherige Rechtsprechung

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG hat das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige die Nichtigkeit einer im Rahmen der betreffenden Massenentlassung erklärten Kündigung zur Folge. Diese Rechtsfolge ist nicht ausdrücklich in § 17 KSchG geregelt. Das BAG begründete diese Rechtsfolge bislang mit einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 17 KSchG i. V. m. § 134 BGB.

Vorabentscheidungsersuchen des BAG an den EuGH

Jedoch stellte sich das BAG in dem Verfahren 6 AZR 155/21 die Frage, ob ein Fehler im Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG auch die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG sieht vor, dass der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit zusammen mit der Massenentlassungsanzeige auch eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung zuleiten muss. Das BAG wollte geklärt wissen, ob ein Verstoß gegen diese lediglich kollektivrechtliche und öffentlich-rechtliche Reglungen beinhaltende Vorschrift die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat. Da der deutsche Gesetzgeber mit dieser Regelung in § 17 Abs 3 S. 1 KSchG den Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 Massenentlassungsrichtlinie 98/59 (MERL) umgesetzt hat, hat das BAG diese Frage nicht selbst entschieden, sondern sie zur Beantwortung dem EuGH (Europäische Gerichtshof) vorgelegt, der für die Auslegung von Europäischen Richtlinien zuständig ist. Das BAG bat den EuGH um Beantwortung der Frage, welchen konkreten Zweck diese Norm hat (Vorabentscheidungsersuchen des BAG vom 27. Januar 2022 6 AZR 155/21). Insbesondere ersucht der BAG den EuGH um Beantwortung der Frage, ob diese Norm mit ihren kollektivrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Reglungen auch Arbeitnehmerinteressen schützen soll. Das BAG beabsichtigte offenbar, seine Rechtsprechung dahingehend anzupassen, dass ein Fehler bei der Massenentlassungsanzeige, der nur auf einem Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG beruht, nicht mehr durch die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen sanktioniert wird, sofern der EuGH die Vorlagefrage dahingehend beantwortet, dass die betreffende Vorschrift der MERL nicht den Schutz von Arbeitnehmerinteressen bezweckt.

Stellungnahme des Generalanwaltes

In dem anhängigen Verfahren vor dem EuGH hat der Generalanwalt nun in seiner Stellungnahme nicht nur ausgeführt, dass nicht nur die konkrete Norm in Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 MERL nicht den Schutz von Arbeitnehmerinteressen bezweckt, sondern darüber hinaus festgestellt, dass dies für den gesamten Art. 2 MERL gilt. Nach den Ausführungen des Generalanwalts soll der gesamte Art. 2 MERL Arbeitnehmenden lediglich einen kollektiven Schutz verschaffen.

Dies könnte zur Folge haben, dass nicht nur Verstöße gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, sondern sämtliche Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren zukünftig nicht mehr die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen zur Folge haben. Denn der Generalanwalt hat ebenfalls festgestellt, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der MERL keineswegs dazu verpflichtet seien, einen Verstoß gegen eine der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten mit der Nichtigkeit der Kündigung zu ahnden. Eine solche Rechtsfolge sei in der Entstehung der Massenentlassungsrichtlinie gerade verworfen worden. Jedoch räumt der Generalanwalt ein, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihres Ermessens die Möglichkeit haben, ergänzende Vorschriften zu schaffen, zum Beispiel auch solche, die eine Sanktion von Fehlern im Massenentlassungsverfahren in Gestalt der Unwirksamkeit der betreffenden Kündigungen vorsehen.

Aussetzung von vier Verfahren vor dem BAG in Erwartung auf ein Urteil des EuGH

Als Reaktion auf die Stellungnahme des Generalanwaltes hat das BAG am 11.05.2023 vier Verfahren ausgesetzt, in denen über Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren und deren Rechtsfolgen zu entscheiden ist (6 AZR 157/22 (A), 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22 -).

Sollte der Europäische Gerichtshof sich der Stellungnahme des Generalanwaltes vollständig anschließen, hätte dies zur Folge, dass Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren nicht mehr grundsätzlich die Nichtigkeit einer im Rahmen der betreffenden Massenentlassung erklärten Kündigung zur Folge hätten. Zwar könnte die Nichtigkeit solcher Kündigungen als Rechtsfolge in ergänzenden nationalen Vorschriften geregelt werden. Aus § 17 KSchG selbst ergibt sich diese Rechtsfolge jedoch nicht.

Daher erwarten wir das Urteil des EuGH mit Spannung.

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