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Anfechtung der Betriebsratswahl bei Verkennung des Betriebsbegriffs bei sog. „gewillkürten Vertretungsstrukturen"

Anfechtung der Betriebsratswahl bei Verkennung des Betriebsbegriffs bei sog. „gewillkürten Vertretungsstrukturen“

Verkennt der Wahlvorstand den Betriebsbegriff und wird die Betriebsratswahl infolgedessen für eine Einheit durchgeführt, die nicht als Betrieb im Sinne des BetrVG zu qualifizieren ist, hat dies grundsätzlich die Unwirksamkeit der Betriebsratswahl zur Folge. Nach dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 21.06.2023 – 7 ABR 19/22 gilt dies auch, wenn in einem Unternehmen eine abweichende (gewillkürte) Betriebsstruktur vereinbart ist und der Wahlvorstand die Wahl in einer Organisationseinheit durchgeführt wurde, die nach dieser vereinbarten „gewillkürten“ Struktur nicht betriebsratsfähig ist.

Herausforderungen bei der Bestimmung des Betriebsbegriffs

Der Betriebsbegriff nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist nicht nur für die Wahl des Betriebsrats, sondern auch für viele andere Rechte und Pflichten aus dem BetrVG relevant. Die Organisationsstruktur von Unternehmen wird jedoch immer flexibler und moderner. Sowohl für Arbeitgeber als auch für Betriebsräte wird es immer schwieriger einzuschätzen, welche Einheiten in ihrem Unternehmen als Betrieb im Sinne des BetrVG zu qualifizieren sind. Um diese Unsicherheiten aus dem Weg zu schaffen, können die Tarifvertragsparteien bzw. nachrangig die Betriebsparteien nach § 3 BetrVG „gewillkürte Vertretungsstrukturen“ regeln. Das bedeutet, dass die Parteien innerhalb der von § 3 BetrVG vorgegebenen gesetzlichen Grenzen selbst bestimmen können, welche Einheiten zu Betrieben zusammengefasst werden, für die dann jeweils ein Betriebsrat gewählt wird.

In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass der Betriebsbegriff von den Betriebsparteien – also sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Betriebsrat – verkannt wird, aber auch die beratenden Anwälte Schwierigkeiten haben, die Frage nach dem Betrieb eindeutig zu beantworten. Dies passiert vor allem dort, wo die tatsächliche Betriebsstruktur von der Vorstellung des BetrVG abweicht, so zum Beispiel bei einer Matrixorganisation (siehe dazu auch unter https://www.icl-rechtsanwaelte.de/willkommen-in-der-matrix-die-fortsetzung/). Die Verkennung des betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriffs kann allerdings vor allem bei der Betriebsratswahl schwere Folgen nach sich ziehen und zur Unwirksamkeit der Betriebsratswahl führen.

Wie können gewillkürte Vertretungsstrukturen gestaltet werden?

Gewillkürte Vertretungsstrukturen nach § 3 Abs. 1 BetrVG können vorrangig durch einen Tarifvertrag (sog. Zuordnungstarifvertrag) geregelt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen können aber auch Zuordnungsbetriebsvereinbarungen getroffen werden.

Eine Betriebsvereinbarung über Vertretungsstrukturen nach § 3 Abs. 1 BetrVG darf nur abgeschlossen werden, wenn der Arbeitgeber allgemein nicht tarifgebunden ist. Für tarifgebundene Arbeitgeber besteht lediglich die Möglichkeit, einen Zuordnungstarifvertrag zu schließen.

Inhaltlich können die gewillkürten Vertretungsstrukturen durch Betriebsvereinbarung verschieden gestaltet werden: So kann für Unternehmen mit mehreren Betrieben die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrates oder die Zusammenfassung von Betrieben bestimmt werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG). Für Unternehmen und Konzerne, die in produkt- oder projektbezogenen Geschäftsbereichen (Sparten) organisiert sind und bei denen die Leitung der Sparte auch Entscheidungen in beteiligungspflichtigen Angelegenheiten trifft, kann die Bildung von Spartenbetriebsräten bestimmt werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Außerdem können zusätzliche betriebsverfassungsrechtliche Gremien (Arbeitsgemeinschaften) oder zusätzliche Arbeitnehmervertretungen errichtet werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 und 5 BetrVG).

„Neue“ Arbeitnehmervertretungsstrukturen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG können nur durch Tarifvertrag, nicht aber durch Betriebsvereinbarung gebildet werden. „Neue“ Vertretungsstrukturen sind alle Strukturen, die nicht unter die Nummern 1, 2, 4 und 5 fallen, aber aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen, der wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dienen (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Davon ist zum Beispiel die Regelung einer zwei- oder gar nur einstufigen Interessenvertretung statt einer dreistufigen (Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat, Konzernbetriebsrat) in einem mittelständischen Konzern mit wenigen kleinen Konzernunternehmen umfasst. Es können aber auch „neue“ Arbeitnehmervertretungsstrukturen entlang der Produktionskette oder für andere moderne Erscheinungsformen von Produktion, Dienstleistung und Zusammenarbeit von Unternehmen geschaffen werden.

Wann kann eine Betriebsratswahl angefochten werden?

Voraussetzung für die Anfechtung einer Betriebsratswahl ist zunächst, dass die Wahl gegen wesentliche Wahlvorschriften verstößt. Verstöße gegen wesentliche Wahlvorschriften sind bei der Anwendung von gewillkürten Vertretungsstrukturen in verschiedenen Konstellationen denkbar, z.B.:

  1. Wenn eine Betriebsratswahl unter Anwendung eines unwirksamen Zuordnungstarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1-3 BetrVG durchgeführt wurde oder
  2. Der Wahlvorstand bei der Anwendung eines wirksamen Tarifvertrages nach § 3 Abs. 1 Nr. 1-3 BetrVG die maßgebliche betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit verkannt hat oder
  3. Wenn der Wahlvorstand eine tarifvertraglich gewillkürte Vertretungsstruktur zugrunde legt, die beim Arbeitgeber aus anderen Gründen nicht gilt und es sich bei der zugrunde gelegten Einheit nicht um einen Betrieb (§ 1 BetrVG) oder Betriebsteil (§ 4 BetrVG) handelt.

Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 21.06.2023

Der Beschluss des BAG vom 21.06.2023 – 7 ABR 19/22 fügt sich in diese Grundsätze ein: Die Betriebsratswahl konnte erfolgreich angefochten werden, weil der Wahlvorstand die nach § 3 Abs. 1 BetrVG tarifvertraglich gewillkürte Vertretungsstruktur verkannt hat und die Wahl in einer Organisationseinheit durchgeführt wurde, die nach dem Zuordnungstarifvertrag nicht betriebsratsfähig ist.

Das gilt nach den Ausführungen des BAG sogar dann, wenn der Arbeitgeber durch organisatorische Veränderungen Betriebe zusammenlegt, spaltet oder zerschlägt und die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG errichtete betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit dadurch entfällt sowie die tarifliche Regelung insoweit ihre Wirkung verliert.

Im vorliegenden Fall hatte der Zuordnungstarifvertrag festgelegt, dass die Bereiche „Pflege und Bildungszentren“ einen Betrieb bilden. Der Bereich „Bildungszentren“ wurde sodann vom Arbeitgeber abgespalten und an einen anderen Rechtsträger übertragen. Im Zuordnungstarifvertrag war vorgesehen, dass die Regelung für den Fall von Änderungen der Organisationsstruktur überprüft werden soll. Das BAG entschied, dass aufgrund dieser Klausel nicht davon ausgegangen werden kann, dass für den Fall der Abspaltung der überbleibende „Restbetrieb Pflege“ als eigener Betrieb fortzuführen sei. Durch die Abspaltung sei der Zuordnungstarifvertrag insgesamt wirkungslos geworden. Infolgedessen hätte der Betriebsrat auf der Grundlage der gesetzlichen Struktur gewählt werden müssen.

Auswirkungen auf die Praxis

Schon bei Abschluss eines Zuordnungstarifvertrags oder einer Zuordnungsbetriebsvereinbarung sollten die Parteien verbindliche Regelungen für Fälle möglicher Strukturänderungen treffen. Die Rechtsfolgen von Spaltungen, Zusammenlegungen oder sonstigen organisatorischen Veränderungen von Betrieben sollten in Zuordnungstarifverträgen bzw. -betriebsvereinbarungen möglichst klar bestimmt werden, um Unsicherheiten in der betrieblichen Praxis zu vermeiden. Dies ist nicht nur wichtig, um nachfolgende Betriebsratswahlen möglichst rechtssicher durchführen zu können. Auch für die Festlegung der Zuständigkeiten von Betriebsräten im Anschluss an organisatorische Veränderungen sind solche klaren Regelungen wichtig.

Falls Betriebsrat oder Arbeitgeber nach organisatorischen Veränderungen von Betrieben unsicher sind, ob und welche betriebsratsfähigen Organisationseinheiten vorliegen, sind sie nicht gezwungen, bis zur nächsten Betriebsratswahl zu warten und die Frage dann in einem Wahlanfechtungsverfahren zu klären. Sie können diese Frage auch unabhängig von der Betriebsratswahl jederzeit in einem Verfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG vom Arbeitsgericht überprüfen lassen. Ein solches Verfahren ist sogar empfehlenswert, um bis zur nächsten Betriebsratswahl Rechtssicherheit zu erzielen, damit die Wahl unter Beachtung der korrekten betriebsratsfähigen Einheit durchgeführt werden und ein Anfechtungsverfahren vermeiden werden kann.

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