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Fehler bei Massenentlassungsverfahren im Rahmen des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG führen nicht zur Unwirksamkeit von Kündigungen

– Fortsetzung unseres Blogbeitrags vom 02.06.2023 https://www.icl-rechtsanwaelte.de/fuehren-fehler-in-massenentlassungsanzeigen-in-zukunft-nicht-mehr-zur-unwirksamkeit-von-kuendigungen/

In unserem Blogbeitrag vom 02.06.2023 hatten wir über das Vorabentscheidungsersuchen des BAG vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21) und die Stellungnahme des Generalanwaltes berichtet sowie auf die ausstehende und mit Spannung erwartete Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hingewiesen, die nun am 13. Juli 2023 (Az.: C-134/22) erlassen worden ist.

Anders als nach der Stellungnahme des Generalanwaltes zunächst vermutet, hat das Urteil des EuGH nicht zur Folge, dass die bisherige Rechtsprechung des BAG zu den Rechtsfolgen von Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren vollständig überdacht werden müsste.

Der EuGH stellt in dem Urteil (nur) fest, dass Nichtzuleitung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung an die Agentur für Arbeit im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens keinen Individualrechtsschutz vermittelt. Damit hat sich der EuGH zwar grundsätzlich der Stellungnahme des Generalanwaltes angeschlossen, allerdings ohne darüber hinaus Feststellungen dazu zu treffen, ob auch andere Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren Individualrechtsschutz vermitteln oder nicht.

Vorabentscheidungsersuchen des BAG: Warum kommt es darauf an, ob bzw. welche Verpflichtungen der Arbeitgeber bei der Massenentlassungsanzeige Individualrechtsschutz vermitteln?

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG führt das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige unmittelbar zur Nichtigkeit einer im Rahmen der betreffenden Massenentlassung erklärten Kündigung. Das BAG begründet dies bislang mit einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 17 KSchG. Ein Verstoß gegen § 17 KSchG kann aber nur dann die Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB zur Folge haben, wenn die in § 17 KSchG geregelten Pflichten jedenfalls auch dem Individualrechtsschutz der gekündigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dienen.

Neben anderen in § 17 KSchG geregelten Pflichten fordert § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG von Arbeitgebern, der Agentur für Arbeit zusammen mit der Massenentlassungsanzeige auch eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung zuzuleiten. Ob ein Verstoß gegen diese spezielle Verpflichtung im Rahmen der Massenentlassungsanzeige auch dem Individualrechtschutz der betroffenen Arbeitnehmer dient, ist für den vom BAG zu entscheidenden Fall relevant.

Daher hatte das BAG den EuGH um eine Entscheidung darüber ersucht, welcher konkrete Zweck mit Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 Massenentlassungsrichtlinie 98/59 (MERL) verfolgt wird. Da die Vorgaben dieser Vorschrift der MERL mit dem § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG in nationales Recht umgesetzt sind, hat die Beantwortung dieser Frage durch den EuGH unmittelbare Auswirkungen auf die Auslegung von § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG.

Stellungnahme des Generalanwaltes

Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH hat der Generalanwalt jedoch nicht nur konkret zur Zwecksetzung von Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 MERL Stellung genommen. Vielmehr hat der Generalanwalt mehr beantwortet, als vom BAG überhaupt gefragt worden war und ausgeführt, dass der gesamte Art. 2 MERL – also alle Anzeigeverpflichtungen der Arbeitgeber im Massenentlassungsanzeigeverfahren gegenüber der Behörde – keinen Individualrechtsschutz bezweckt.

Als Reaktion auf die Stellungnahme des Generalanwaltes hat das BAG am 11.05.2023 vier Verfahren ausgesetzt, in denen über unterschiedliche Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren und deren Rechtsfolgen zu entscheiden ist (6 AZR 157/22 (A), 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22 -). Hätte der EuGH seine Entscheidung nämlich genauso weit gefasst, wie die Stellungnahme des Generalanwalts ausgefallen ist, hätte dies zur Folge haben können, dass sämtliche Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren zukünftig nicht mehr die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen zur Folge haben.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat sich jedoch diesen weiten Ausführungen aus der Stellungnahme des Generalanwaltes nicht angeschlossen. Vielmehr hat der EuGH nur in Bezug auf den Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 MERL, also die in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG umgesetzte Verpflichtung, geurteilt, dass diese nicht den Individualrechtsschutz der gekündigten Arbeitnehmer bezweckt.

Dies begründet der EuGH damit, dass die in Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 MERL vorgesehene Verpflichtung zum Zuleiten der Informationen an die zuständige Behörde (Agentur für Arbeit) nur Informations- und Vorbereitungszwecke verfolge und somit gerade keinen Individualrechtschutz verleihe. Der Zweck des Anzeigeverfahrens besteht nach den Ausführungen des EuGH darin, dass die Agentur für Arbeit sich über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, einen Überblick verschaffen kann. Außerdem werde der Behörde im Anzeige- und Konsultationsverfahren keine aktive Rolle zugewiesen. Sie sei nur die Adressatin einer Abschrift bestimmter Bestandteile der fraglichen Mitteilung – im Gegensatz zu ihrer aktiven Rolle in späteren Abschnitten des Verfahrens. Im Übrigen setze die fragliche Übermittlung weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang, noch schaffe sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde. Somit diene § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG gerade nicht dem Individualschutz des Arbeitnehmers.

Auswirkung

  1. Die Entscheidung des EuGH wird lediglich auf das Verfahren beim BAG, im Rahmen dessen das Vorabentscheidungsgesuch gestellt wurde, eine maßgebliche Auswirkung haben. Zwar ist hier das Urteil des BAG noch abzuwarten, doch aufgrund des Urteils des EuGH ist davon auszugehen, dass das Nichtzuleiten der Informationen nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG an die Agentur für Arbeit keine Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen mehr darstellen sollte.

 

  1. Für die vier weiteren Verfahren, die das BAG bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt hat (6 AZR 157/22 (A), 6 AZR 482/21, 6 AZR 115/22 und 6 AZR 121/22), wird das Urteil des EuGH keine Auswirkungen haben. Denn die Aussagen des EuGH beziehen sich ausdrücklich nur auf Art. 2 Abs. 3 Unterab. 2 MERL. Nur dieser konkreten Regelung kommt kein Individualrechtsschutz zu. Damit lässt der EuGH aber ausdrücklich offen, ob dies auch für die weiteren Regelungen der MERL gilt, die ebenfalls in § 17 KSchG umgesetzt sind. Es bleibt abzuwarten, ob das BAG nun in jedem einzelnen dieser vier Verfahren ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten wird, um für die weiteren Anzeigeverpflichtungen gemäß Art. 2 MERL ebenfalls feststellen zu lassen, ob die auch dem Individualrechtsschutz dienen.

 

Damit bleibt die Erstellung von Massenentlassungsanzeigen eine risikoreiche Tätigkeit, weil Fehler grundsätzlich weiterhin zur Unwirksamkeit aller im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen führen können. Klarheit besteht durch die Entscheidung des EuGH nur für die Verpflichtung zur Zuleitung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat über die geplante Massenentlassung zusammen mit der Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit: Verstöße gegen diese gesetzliche Vorgabe führen nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen.

Abzuwarten bleibt, ob der EuGH auch bei anderen Fehlern im Konsultations- oder Anzeigeverfahren die strenge Folge der Unwirksamkeit der Kündigung in Frage stellen wird. Dazu werden weitere Vorlageverfahren von Gerichten Europas nötig sein.

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